Das Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut
- manfred.lobstein
- 7. Aug.
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(Bild: Quelle)
“Wahrlich, so spricht der Herr zu euch, meine Diener, über das Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut:” (Lehre und Bündnisse 86:1).
Lehre und Bündnisse 86 – Geschichtlicher Hintergrund und Einordnung der Offenbarung vom 6. Dezember 1832
Am 6. Dezember 1832 empfing Joseph Smith in Kirtland, Ohio, eine Offenbarung, die heute als Abschnitt 86 bekannt ist. Diese Offenbarung entstand im Kontext der fortlaufenden Arbeit an der „Neuen Übersetzung“ der Bibel (heute als Joseph-Smith-Übersetzung bekannt). Sie ist ein markantes Beispiel dafür, wie der Prophet nicht nur versuchte, den Text der Bibel besser zu verstehen, sondern diesen durch Offenbarung richtigzustellen wo er versehentlich oder absichtlich abgeändert wurde oder wichtige Teile entfernt wurden. Der unmittelbare Anlass war die erneute Beschäftigung mit dem Gleichnis vom Weizen und dem Unkraut aus Matthäus 13, ein Gleichnis, das in der Offenbarung eine tiefere, heilsgeschichtliche Bedeutung erhält.
1. Der Entstehungskontext: Bibelübersetzung als Offenbarungsquelle
Seit Sommer 1830 arbeitete Joseph Smith an der Übersetzung der Bibel durch Inspiration. Diese Arbeit war keineswegs eine rein sprachliche, sondern eine theologisch-prophetische Auseinandersetzung mit dem Text, bei der er göttliche Einsichten empfing, die weit über bloße Textkorrekturen hinausgingen. Im Frühjahr 1831 hatte Joseph bereits Matthäus 13 überarbeitet, aber bei der Stelle über das Gleichnis vom Weizen und dem Unkraut (Verse 24–30) zunächst keine wesentlichen Änderungen vorgenommen.
Im Dezember 1832 kehrte er jedoch zu dieser Passage zurück. Laut seinem Tagebucheintrag vom 6. Dezember verbrachte er den Tag mit „Übersetzen“ und empfing „eine Offenbarung, die das Gleichnis vom Weizen und dem Unkraut erklärt“. Dies legt nahe, dass er gerade diesen Abschnitt überarbeitete oder darüber meditierte, als die Offenbarung kam. Die Interpretation des Gleichnisses wurde nun nicht mehr bloß auf die damaligen Zuhörer Jesu bezogen, sondern erhielt eine heilsgeschichtliche Neudeutung für die Zeit der Großen Apostasie, der Wiederherstellung und der Letzten Tage.
2. Die theologische Bedeutung des Gleichnisses im Lichte der Offenbarung
Das Gleichnis vom Weizen und dem Unkraut in Matthäus 13 beschreibt, wie ein Mann guten Samen auf seinen Acker sät, doch während die Menschen schlafen, kommt der Feind und sät Unkraut dazwischen. Als das Getreide wächst, erscheint auch das Unkraut. Der Hausvater ordnet an, beides wachsen zu lassen, bis zur Ernte. Dann sollen zuerst das Unkraut gebunden und verbrannt, und danach der Weizen in die Scheune gebracht werden.
In L&B 86 wird dieses Gleichnis jedoch umgedeutet und mit neuer Symbolik versehen. Der Herr erklärt, dass das „gute Saatgut“ die ursprünglichen Apostel sind, die das Evangelium gesät haben. Doch bald nach ihrer Zeit kam Satan und säte Unkraut – falsche Lehren, abweichende Praktiken und letztlich den Abfall vom Glauben. Die Kirche wurde „in die Wildnis getrieben“, wie es auch in Offenbarung 12 dargestellt wird. Der Prozess der Apostasie wird hier nicht als plötzliches Ereignis, sondern als schleichender Verlust der Vollmacht und Wahrheit beschrieben.
Ein zentraler theologischer Punkt dieser Offenbarung ist die Umkehrung der Ernteordnung. Während im biblischen Gleichnis zuerst das Unkraut gesammelt wird, lässt die Offenbarung in Vers 7 erklären: „dann sammelt zuerst den Weizen aus dem Unkraut,“. Dies reflektiert eine bereits in früheren Offenbarungen (z. B. L&b 64:24; 133:12–14) betonte Wahrheit: In den Letzten Tagen sollen die Rechtschaffenen zuerst gesammelt werden – etwa durch die Sammlung nach Zion – bevor das Gericht über die Schlechten hereinbricht.
3. Die Wiederherstellung des Priestertums und das Erbe der „gesetzlichen Erben“
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Offenbarung liegt in der Betonung des Priestertums. In Vers 8 heißt es, dass der Herr seine „gesetzlichen Erben“ in den Letzten Tagen beruft, um das Werk der Sammlung fortzusetzen. Damit ist gemeint, dass das Priestertum trotz der Apostasie nicht völlig von der Erde verschwunden war, sondern durch göttliche Berufung wiederhergestellt wurde – an jene, die durch ihren Glauben, ihre Abstammung und ihre Berufung dazu bestimmt sind.
Dieser Gedanke wird durch die Anrede „bei denen das Priestertum durch die Linie eurer Väter fortbestanden hat“ (Vers 8) verstärkt. Diese Formulierung ist bemerkenswert, weil sie sowohl eine geistige als auch genealogische Linie anspricht: Die Priestertumsvollmacht wurde den Heiligen der Letzten Tage nicht willkürlich verliehen, sondern sie ist Teil eines göttlichen Plans, der mit den Patriarchen begann und durch Offenbarung wieder aufgerichtet wurde. Die Berufung an die „Erben“ ist eine Beauftragung, Licht für die Nationen und „Erretter“ für Israel zu sein (Vers 11) – ein Verweis auf die messianische Rolle des Kollektivs Israels.
4. Der Zusammenhang mit früheren und späteren Offenbarungen
Die Offenbarung vom 6. Dezember 1832 steht in einem dichten Netz theologischer Verknüpfungen mit anderen Offenbarungen Joseph Smiths. Besonders auffällig ist die Verbindung zur Offenbarung vom 3. November 1831 (L&B 133), in der die Sammlung der Rechtschaffenen vor der Vernichtung der Schlechten betont wird. Auch L&B 1, das Vorwort des Buches, spricht von einer Welt, die sich von Gott abgewendet hat, und vom Auftrag der Heiligen, das Evangelium wiederherzustellen.
Im Kontext dieser prophetischen Sichtweise ist L&b 86 nicht bloß eine exegetische Deutung eines neutestamentlichen Gleichnisses, sondern eine heilsgeschichtliche Standortbestimmung: Die Kirche Christi ist das Werkzeug zur Sammlung des Weizens, zur Wiederherstellung dessen, was durch Abfall und Irrlehren verloren ging, und zur Vorbereitung auf die Wiederkunft Jesu Christi.
5. Redaktionelle Geschichte und Veröffentlichung
Das Originalmanuskript der Offenbarung ist nicht mehr erhalten. Doch Frederick G. Williams, ein enger Mitarbeiter Josephs und sein damaliger Schreiber, übertrug die Offenbarung zwischen Januar und Februar 1833 in das zweite Offenbarungsbuch. Sidney Rigdon, der möglicherweise auch an diesem Tag als Schreiber oder Übersetzer fungierte, könnte beim Bibelübersetzungsprozess beteiligt gewesen sein. Interessant ist, dass Rigdon nur ein einziges Mal als Schreiber bei der Alten-Testament-Revision eingesetzt wurde, nämlich für die Kapitel Jeremia 18–24 – ein Abschnitt, der ebenfalls das Thema Sammlung Israels behandelt.
Als die Offenbarung 1835 in der ersten offiziellen Ausgabe des Buches Doctrine and Covenants veröffentlicht wurde, wurde sie mit der Überschrift „Über das Priestertum“ versehen. Das deutet darauf hin, dass man den theologischen Kern nicht in der Deutung des Gleichnisses selbst, sondern in der damit verbundenen Lehre über das Priestertum und die göttliche Berufung sah.
Fazit: Die Bedeutung von L&B 86 im Rahmen der Wiederherstellung
L&B 86 ist eine theologische Schlüsseloffenbarung im Kontext der Bibelübersetzung und der fortschreitenden Wiederherstellung in den frühen 1830er-Jahren. Sie zeigt beispielhaft, wie Joseph Smith nicht nur Bibelstellen überarbeitete, sondern durch Offenbarung die tiefere Bedeutung und Anwendung für die Letzten Tage erschloss. Das Gleichnis vom Weizen und dem Unkraut wird dabei zum Bild für die Geschichte des Evangeliums von der Zeit der Apostel über die Apostasie bis hin zur Sammlung des Volkes Gottes in den Letzten Tagen.
Die Offenbarung unterstreicht die zentrale Rolle des Priestertums, das nicht nur wiederhergestellt, sondern durch die gesetzlichen Erben getragen wird. Diese Berufenen sollen das Licht zu den Nationen bringen und Israel zur Rückkehr zu Gott führen. L&B 86 steht damit exemplarisch für den prophetischen Anspruch der Wiederherstellung: die Bibel zu „entsiegeln“, die Geschichte der Menschheit im Licht des Evangeliums zu deuten und die Berufung der Heiligen im großen Plan Gottes zu bekräftigen.
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