Eine Offenbarung von Jesus Christus
- manfred.lobstein
- vor 2 Tagen
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Joseph and Emma moved into the Newel K. Whitney store from Hiram, Ohio in September 1832
(Bild: Quelle)
“Eine Offenbarung von Jesus Christus an seinen Diener Joseph Smith Jr. und sechs Älteste, als sie ihr Herz vereinigten und ihre Stimme zum Himmel erhoben.” (Lehre und Bündnisse 84:1).
„Eine Offenbarung … über das Priestertum“ – der historische Rahmen von Lehre und Bündnisse 84
Als Joseph Smith am 22. September 1832 in einem kleinen Zimmer über dem Laden von Bischof Newel K. Whitney in Kirtland, Ohio, zu diktieren begann, lagen bewegte Monate hinter ihm. Nur ein halbes Jahr zuvor, in der eisigen Nacht vom 24. März 1832, war er zusammen mit Sidney Rigdon auf der John-Johnson-Farm in Hiram von einem Mob brutal misshandelt worden. Joseph erholte sich relativ rasch, doch Sidney, dessen Kopf über gefrorenen Boden geschleift wurde, litt dauerhaft unter körperlichen und seelischen Nachwirkungen. Diese Verletzungen, verbunden mit depressiven Neigungen, sollten in den kommenden Monaten immer wieder aufflammen und die Führungsarbeit der jungen Kirche belasten.
Trotz dieser Erschütterungen reiste Joseph bereits wenige Wochen später nach Missouri. In Independence versuchte er, die dortigen Führer mit den Kirtlander Brüdern zu versöhnen, das neu gegründete wirtschaftliche „Vereinigte Unternehmen“ zu ordnen und den bereits 1831 bestimmten Tempelplatz (LuB 57) weiterzuentwickeln. Auf dem Rückweg ereignete sich Anfang Juni ein weiterer Rückschlag: Die Pferde der Postkutsche scheuten, Newel K. Whitney sprang ab, verfing sich im Rad und brach sich Bein und Fuß mehrfach. Joseph blieb vier Wochen in Greenville, Indiana, um den verletzten Bischof zu pflegen. In dieser Abgeschiedenheit notierte er in einem Brief an Emma sein Ringen mit Schwäche und Schuld ebenso wie sein Vertrauen, dass „der Tröster denen gesandt wird, die glauben und sich demütigen“.
Kaum wieder in Kirtland angekommen, erreichten ihn neue Spannungen. Ein Brief von John Corrill aus Missouri warf den Präsidierenden in Ohio Bevorzugung und Machtmissbrauch vor; kurz darauf stürzte Sidney Rigdon in eine Krise und erklärte öffentlich, „die Schlüssel seien diesem Volk entrissen“. Joseph eilte nach Kirtland, enthob Sidney vorübergehend seines Amtes, stellte ihn aber nach Reue und Klärung schon drei Wochen später wieder in die Erste Präsidentschaft ein. Neben all diesen Turbulenzen arbeitete Joseph an der Bibel-Übersetzung, begann erstmals seine Geschichte niederzuschreiben und reflektierte über die zweifache Priestertumsvollmacht, die ihm durch Engelsdienst verliehen worden war. Gerade die nur spärlich dokumentierte Wiederherstellung des Melchisedekischen Priestertums beschäftigte ihn zunehmend.
Währenddessen erfüllten rund zwei Dutzend Älteste den Missionsauftrag aus LuB 75 (Januar 1832) und predigten im Osten der USA. Im September fanden sie sich nach und nach in Kirtland ein und erstatteten Bericht. Diese „Freudenzeiten“, wie Joseph sie bezeichnete, bildeten den direkten Auslöser für seine Bitte um weitere Offenbarung. In den späten Abendstunden des 22. September, wahrscheinlich im Kreis mehrerer zurückgekehrter Missionare, diktierte er den ersten Teil dessen, was später LuB 84 werden sollte; am 23. September folgte eine zweite, abschließende Passage. Früheste Abschriften von Frederick G. Williams und John Whitmer setzen nach den heutigen Vers 102/103 einen deutlichen Abschnittswechsel und vermerken das Datum des Folgetages – ein starkes Indiz für die Zweiteiligkeit der Eingebung.
Die Wahl des Schauplatzes – dem Whitney-Store-Loft – war dabei nicht zufällig. Seit Anfang September bewohnte Joseph mit Emma diese provisorische Wohnung, nachdem sie in seiner dreimonatigen Abwesenheit in wechselnden, oft beengten Quartieren hatte auskommen müssen. Kirtland war 1832 das Verwaltungs- und Ausbildungszentrum der Kirche: Hier befand sich die Druckerei, hier wirkte Bischof Whitney als Ökonom des Vereinigten Unternehmens, hier liefen die Fäden der Missionen zusammen. Gerade deshalb war der Kontrast zum verheißenen Zion in Missouri schmerzlich spürbar. Die Frage lautete: Wie sollte das Priestertum – seine Macht, seine Bündnisse, seine Sendung – dazu beitragen, Tempelbau, Sammlung Israels und weltweite Verkündigung zusammenzuführen?
Die Offenbarung antwortete, indem sie den Begriff „Priestertum“ ins Zentrum rückte. Josephs Geschichtsschreiber notierten sie schlicht als „Revelation … on Priesthood“. Der Text verknüpft die frühere Anweisung, in Independence einen Tempel zu errichten, mit einer ausführlichen Darstellung der beiden Priestertumsordnungen, ihrer Stammlinien von Aaron und Moses bis Adam sowie ihrer bestimmenden Rolle bei der „Vollmacht der Gottheit“. Gerade der scheinbare Exkurs der Verse 7–31 – Moses’ Versuch, Israel an das Angesicht Gottes heranzuführen, und das daraus resultierende „Zorn-Moment“ des Herrn – erklärt, warum Tempelwerk ohne Priestertum seine aufhebende Kraft nicht entfalten kann: Wo das Volk die höhere Gabe verweigert, bleibt nur ein reduziertes Gesetz.
Historisch bedeutsam ist ferner die in LuB 84 erneuerte Beauftragung zum Tempelbau und zur Predigt. Zwar sollte in Kirtland selbst erst Ende 1832 mit konkreten Tempelplänen begonnen werden; doch der Wahrheitskern blieb: Die Fülle des Melchisedekischen Priestertums müsse, so heißt es, in einem geweihten Haus offenbart werden, um die Heiligen auf das Kommen Christi in Zion vorzubereiten. Gleichzeitig verpflichtete der Herr die Ältesten, „hinzugehen in alle Welt“ (LuB 84:62). Damit verband er unmittelbare Missionspraxis – die in Kirtland greifbar vor Augen stand – mit dem großen eschatologischen Bild einer versammelten, priesterlich bevollmächtigten Menschheit.
Dass die Umsetzung nicht geradlinig verlief, zeigen die Folgejahre. Weder in Independence noch im aufziehenden Konflikt mit den Missouriern ließ sich ein Tempel verwirklichen; Kirtland wurde zum ersten realisierten Standort. Doch LuB 84 blieb für die Führungsebene ein Schlüsseltext. Er erhöhte Josephs Bewusstsein für das Priestertum als „Bindeglied zwischen Erde und Himmel“ und trieb die Suche nach weiteren weihehaften Ordinanzen voran, die im Kirtland Tempel 1836 ihren Auftakt fanden. Zugleich beeinflusste er die Entwicklung des Vereinigten Unternehmens und die Einführung des Gesetzes der Weihung, indem er materielles Handeln – etwa die Bestellung von Bischofsläden – klar mit geistlichen Verpflichtungen verknüpfte.
Auch persönlich prägte die Offenbarung mehrere Teilnehmer. Für Bischof Whitney begann bald nach Vers 112 seine Reise mit Joseph nach New York, Albany und Boston, auf der wiederum Prophezeiungen erfüllt wurden; Orson Hyde und Hyrum Smith verfassten, wie in Vers 76 geboten, eine wohlformulierte Zurechtweisung an die Führer Missouris; und Sidney Rigdon fasste langsam wieder Fuß im Amt, obwohl sein Gesundheitszustand angespannt blieb. Die Verknüpfung von Priestertumsvollmacht, Missionsauftrag und gegenseitigem Dienst wurde also unmittelbar gelebt.
Die Frage, warum Joseph gerade den Begriff „Priestertum“ als Überschrift wählte, beantwortet sich damit aus der Erfahrung jener Monate: Tempel, Sammlung, Evangeliumspredigt, Gesetz der Weihung – all diese Themen kulminieren in der Vollmacht, die Menschen aus der Sterblichkeit erhebt und sie vor das Angesicht Gottes führt. In Greenville hatte Joseph noch bitter über seine eigene Unzulänglichkeit geklagt; in Kirtland vernahm er nun eine umfassende göttliche Zusicherung, dass Priestertumsbündnisse die Schwächen des Einzelnen überwinden können, solange dieser bereit ist, „das ganze Gesetz zu empfangen“.
So steht LuB 84 – entstanden zwischen Spätsommerhitze, Missionsberichten und dem ersten Herbstlaub Nord-Ohios – an einer historischen Wegscheide: Es schließt eine Periode schwerer Bewährung ab und eröffnet eine Phase intensiver Belehrung über Tempelumkehr, Bundestreue und geistige Vollmacht. Dass die Heiligen 1832 die Vision von Zion noch nicht verwirklichen konnten, mindert nicht den Stellenwert dieser Offenbarung. Vielmehr erwies sie sich als theologisches Fundament, auf dem spätere Tempel- und Priestertumslehren systematisch aufbauten. Aus der Rückschau zeigt sich, dass die rauen Erfahrungen der Monate vor September 1832 den Boden für eine der weitreichendsten Doktrinen der Wiederherstellung bereitet hatten – eine Doktrin, die bis heute das Selbstverständnis des Priestertums und die Hoffnungen auf das Neue Jerusalem trägt.
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