Es hat einiges gegeben, woran ich, der Herr, kein Wohlgefallen hatte
- manfred.lobstein
- 8. Okt.
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(Bild: Quelle)
“Wahrlich, ich sage dir: Es hat in deinem Herzen und bei dir einiges wenige gegeben, woran ich, der Herr, kein Wohlgefallen hatte.” (Lehre und Bündnisse 112:2).
Die Worte in Lehre und Bündnisse 112 beginnen sehr persönlich. Thomas B. Marsh, der damalige Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, hatte gebetet und mit Sorgen für seine Brüder im Apostelkollegium gerungen. In dieser Situation wendet sich der Herr an ihn und spricht in liebevoller, aber auch ernster Weise: „Es hat in deinem Herzen und bei dir einiges wenige gegeben, woran ich, der Herr, kein Wohlgefallen hatte“ (Vers 2). Die Frage, was wir selbst empfinden würden, wenn uns der Herr so direkt anspricht, führt mitten in die Tiefe des Textes. Auf der einen Seite wäre da die Scham oder die Sorge, dem Herrn nicht entsprochen zu haben; auf der anderen Seite steckt in diesen Worten eine große Chance: Der Herr redet, er weist zurecht, weil er liebt. Für Marsh war das eine Einladung, zur Demut zurückzukehren und Vergebung zu empfangen (Vers 3).
Historisch befand sich die Kirche 1837 in einer angespannten Lage. Das Finanzsystem in Kirtland war zusammengebrochen, viele Heilige zweifelten an Joseph Smiths Führungsanspruch, und auch unter den Zwölf gab es Spannungen. Marsh war zwar von großem Eifer erfüllt, doch manche Quellen deuten darauf hin, dass er bereits damals mit Stolz und Unsicherheiten rang. Dass der Herr ihm gerade jetzt zuspricht, macht die Dringlichkeit deutlich: Marsh sollte ein demütiger und treuer Führer sein, während viele andere verunsichert waren.
Die Verse 4 bis 10 enthalten eine Reihe kraftvoller Ermahnungen. Marsh soll „von meinem Namen Zeugnis geben … bis an die Enden der Erde“ (Vers 4). Der Herr macht klar, dass das Apostelamt nicht nur eine Würde, sondern vor allem eine Pflicht ist. Es ist interessant, dass Marsh hier sowohl persönlich als auch stellvertretend für die Zwölf angesprochen wird. Er soll Tag und Nacht seine Stimme erheben, Zurechtweisung üben, den Verleumder zum Schweigen bringen und vor allem: „Sei demütig, dann wird der Herr, dein Gott, dich an der Hand führen“ (Vers 10). Die Botschaft ist zeitlos: Demut ist der Schlüssel zu echter geistlicher Führung.
In den Versen 11 bis 15 erweitert sich die Perspektive. Der Herr spricht Marshs Sorge für seine Brüder an: „Ich kenne dein Herz und habe deine Gebete in Bezug auf deine Brüder vernommen“ (Vers 11). Diese Fürsorge wird positiv gewürdigt, doch Marsh soll lernen, nicht parteiisch zu sein, sondern alle Menschen in gleicher Liebe zu sehen. Besonders auffällig ist der Auftrag in Vers 12: „Und bete für deine Brüder von den Zwölf. Ermahne sie mit Deutlichkeit um meines Namens willen.“ Das ist eine schwierige Aufgabe, die sehr viel Mut erfordert. Gerade weil Spannungen innerhalb des Kollegiums herrschten, musste Marsh die geistige Kraft aufbringen, in Klarheit zu reden, ohne die Einheit zu zerstören.
Die Verse 13 bis 15 zeigen eine Mischung aus Warnung und Verheißung. Der Herr versichert, dass er die Zwölf trotz Drangsalen „heilen“ wird, wenn sie ihr Herz nicht verhärten (Vers 13). Gleichzeitig gibt er ein klares Gebot: „Erhöht euch nicht selbst; lehnt euch nicht gegen meinen Diener Joseph auf“ (Vers 15). Hier wird sichtbar, wie sehr die Gefahr von Stolz und Abfall real war. Viele Führer in Kirtland und Missouri verloren in dieser Zeit ihr Vertrauen in Joseph Smith. Der Herr aber bekräftigt, dass die Schlüssel, die Joseph gegeben wurden, nicht von ihm genommen würden. Das war eine deutliche Mahnung auch an Marsh: Seine Berufung hatte Gewicht, aber sie stand nicht über der des Propheten.
Für uns heute liegt in diesen Versen eine starke Botschaft. Jeder, der in der Kirche Verantwortung trägt, sei es in einer Führungsposition oder im familiären Umfeld, kann sich in Marsh wiederfinden. Es gibt immer „einiges wenige“, woran der Herr vielleicht kein Wohlgefallen hat. Doch statt uns zu entmutigen, laden diese Worte ein, im Vertrauen zu wachsen und in Demut voranzugehen. Die Zusage, dass Gott uns an der Hand führt (Vers 10), gilt ebenso heute wie damals.
Zugleich ist der historische Verlauf von Marshs Leben eine ernste Warnung. Nur ein Jahr nach dieser Offenbarung begann sein Abfall von der Kirche, der schließlich in seinem dramatischen Austritt 1838 mündete. Die Worte des Herrn in den Versen 1–15 zeigen im Rückblick, wie deutlich er vor Stolz, Selbstüberhebung und Parteigeist warnte. Hätte Marsh sie damals in vollem Maß befolgt, wäre seine Geschichte vielleicht anders verlaufen. Doch gerade weil er fiel, ist sein späteres Beispiel der Umkehr umso kraftvoller: 1857, nach fast zwei Jahrzehnten, kehrte er reumütig zurück. Damit wird klar: Auch wenn wir die Mahnungen Gottes manchmal verfehlen, bleibt die Tür zur Umkehr geöffnet.
So sind die Verse 1–15 von Lehre und Bündnisse 112 nicht nur ein Spiegel für Thomas B. Marsh, sondern für uns alle: Sie fragen nach unserer Demut, nach unserer Bereitschaft, uns korrigieren zu lassen, und nach unserer Treue gegenüber dem Herrn und seinen Dienern. Wer diese Botschaften ernst nimmt, kann lernen, beständiger im Glauben zu bleiben und Fehltritte schneller durch Umkehr zu heilen.
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