Gegeben als Grundsatz mit einer Verheißung
- manfred.lobstein
- 19. Aug.
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Das Wort der Weisheit wurde gegeben
(Bild: Quelle)
“gegeben als Grundsatz mit einer Verheißung, angepasst der Fähigkeit der Schwachen und der Schwächsten unter allen Heiligen, die Heilige sind oder so genannt werden können.” (Lehre und Bündnisse 89:3).
Lehre und Bündnisse 89:1–4 – Vom freundlichen Gruß zum verbindlichen Gebot: Entstehung, Entwicklung und Bedeutung des Wortes der Weisheit
Die ersten vier Verse von Lehre und Bündnisse 89 bilden die Einleitung zur sogenannten „Offenbarung über das Gesundheitsgesetz“ oder dem „Wort der Weisheit“. Sie markieren nicht nur den Ausgangspunkt einer der bekanntesten Offenbarungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, sondern auch ein faszinierendes Beispiel dafür, wie göttliche Weisung sich in ihrer Anwendung im Lauf der Zeit vertiefen und konkretisieren kann. Ursprünglich als „Gruß, nicht als Gebot oder Nötigung“ formuliert (Vers 2), wurde das Wort der Weisheit im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dennoch zur verbindlichen Norm des heiligen Lebenswandels. Diese Entwicklung ist sowohl theologisch als auch kirchengeschichtlich bemerkenswert.
1. Ursprung und Zweck der Offenbarung (Vers 1)
Die Offenbarung beginnt mit dem Hinweis, dass sie „zum Nutzen des Rates der Hohen Priester, die in Kirtland versammelt sind, und der Kirche und auch der Heiligen in Zion“ gegeben wurde. Das deutet auf ihren unmittelbaren historischen Kontext hin: die „Schule der Propheten“, ein Ort intensiven geistigen Austauschs und theologischer Schulung im Haus von Newel K. Whitney Anfang 1833. Joseph Smith leitete diese Versammlungen und empfing die Offenbarung am 27. Februar desselben Jahres.
Die Motivation zu dieser Offenbarung hatte praktische Wurzeln: In der Schule der Propheten wurde reichlich Tabak gekaut und geraucht, Kaffee getrunken und Alkohol konsumiert. Emma Smith soll sich über den Schmutz und Geruch beklagt haben – sie musste schließlich den Raum immer wieder säubern. In Reaktion darauf wandte sich Joseph Smith im Gebet an den Herrn, was zur Offenbarung führte.
Doch über den Anlass hinaus offenbart Vers 1 einen tieferen Sinn: Die Weisung galt nicht nur einem kleinen Kreis, sondern der gesamten Kirche – „und auch der Heiligen in Zion“. Damit wurde sie von Beginn an als allgemein relevant gekennzeichnet, auch wenn sie nicht als verpflichtendes Gebot formuliert war.
2. „Nicht als Gebot oder Nötigung“ – der freiwillige Charakter der Weisung (Vers 2)
Vers 2 ist der Schlüssel zum ursprünglichen Verständnis des Wortes der Weisheit: „auszusenden als Gruß, nicht als Gebot oder Nötigung, sondern als Offenbarung und als Wort der Weisheit“. Joseph Smith selbst bezeichnete diese Formulierung als „eine Gnadenweise des Herrn“. Präsident Joseph F. Smith erklärte später in einer Generalkonferenz (Oktober 1913), dass das Wort der Weisheit bewusst nicht als bindendes Gebot gegeben wurde, um den Heiligen Zeit zur Umkehr zu geben. Hätte der Herr es sofort als verbindlich erklärt, wären alle, die an diesen Gewohnheiten hingen, unter Verdammnis geraten. Stattdessen zeigte sich Gottes Barmherzigkeit in der Formulierung als Rat, nicht Zwang.
Diese differenzierte Haltung zur göttlichen Führung zeigt sich auch in früheren Dispensationen. Der Herr passt seine Weisungen der Fähigkeit und Reife seiner Kinder an. So wie Gesetz des Mose für Israel einst ein „Zuchtmeister“ war (vgl. Galater 3:24), war auch das Wort der Weisheit zunächst ein pädagogischer Impuls – eine Einladung zur Selbstheiligung.
3. Ein Grundsatz mit Verheißung – angepasst den Schwachen (Vers 3)
Ein besonders zärtlicher Ton erklingt in Vers 3: Das Wort der Weisheit wird als „Grundsatz mit einer Verheißung“ beschrieben, „angepasst der Fähigkeit der Schwachen und der Schwächsten unter allen Heiligen“. Dieser Vers verdeutlicht, dass Gottes Gebote nicht zur Überforderung gegeben werden, sondern zur Stärkung und zum Schutz. Selbst die Schwächsten – also auch jene, die abhängig, gebunden oder noch unentschlossen sind – sollen durch diese Weisung nicht verdammt, sondern aufgebaut werden.
Die Formulierung „Grundsatz mit Verheißung“ stellt eine Struktur bereit, die später in Lehre und Bündnisse 130:20–21 wiederkehrt: Segnungen sind an Gesetzestreue gebunden. Das Wort der Weisheit war also von Beginn an mehr als bloßer Rat – es war ein Schlüssel zu geistigem Schutz und physischem Segen, wenn auch ohne unmittelbare Disziplinarmaßnahmen.
4. Warnung vor den Listen verschwörerischer Menschen (Vers 4)
In Vers 4 wird der Grund für die Offenbarung explizit genannt: „Infolge der Schlechtigkeit und der bösen Absichten, die im Herzen von verschwörerischen Menschen in den letzten Tagen vorhanden sind und sein werden, habe ich euch gewarnt.“ Der Herr weist auf die spezifische Notwendigkeit dieser Weisung für die Letzten Tage hin. Das unterscheidet sie von früheren göttlichen Gesundheitsgeboten wie etwa den Speisegesetzen im Alten Testament (beispielhaft: 3. Mose 11:46–47; 5. Mose 14:3–21; 3. Mose 17:10–14; Apostelgeschichte 15:28–29).
Casey Paul Griffiths kommentiert dazu, dass sich diese Warnung auf Kräfte bezieht, die im 19. und 20. Jahrhundert noch kaum verstanden wurden: Tabakindustrie, Alkoholmissbrauch, moderne Drogenprobleme, sogar die Lebensmittelchemie. Die „bösen Absichten“ verschwörerischer Menschen äußern sich in der gezielten Herstellung und Vermarktung gesundheitsschädlicher Produkte – aus Profitgier und ohne Rücksicht auf den menschlichen Körper als Tempel Gottes.
Die Warnung ist prophetisch: Vieles, was Joseph Smiths Zeitgenossen als harmlos betrachteten, ist heute als extrem gesundheitsschädlich bekannt. Damit erweist sich die Offenbarung als bemerkenswert vorausschauend und spezifisch für unsere Zeit.
Vom Rat zum Gebot – die historische Entwicklung
Trotz der klaren Sprache der Freiwilligkeit in den ersten Versen entwickelte sich das Wort der Weisheit im kirchlichen Leben allmählich zur verbindlichen Norm. Brigham Young forderte 1851 erstmals öffentlich die Mitglieder auf, sich zur Einhaltung zu verpflichten. Dennoch wurde über Jahrzehnte hinweg niemand wegen Missachtung ausgeschlossen – erst bei übermäßiger Trunkenheit drohten Disziplinarmaßnahmen. In Predigten der 1860er Jahre sprach Brigham Young wiederholt von der gesundheitlichen und geistigen Bedeutung des Gesetzes: „Wer das Wort der Weisheit nicht halten kann, zeigt, dass er nicht in der Lage ist, das Evangelium zu leben“ (vgl. Woodruff Journals, 1870).
Die Wende kam im frühen 20. Jahrhundert. 1908 verkündete die Erste Präsidentschaft, dass Führungsämter nur noch mit der Einhaltung des Wortes der Weisheit vereinbar seien. 1913 wurde die Regel auf Missionare ausgedehnt. Unter Präsident Heber J. Grant (1918–1945) wurde 1921 die Einhaltung des Wortes der Weisheit zur Voraussetzung für einen Tempelschein erklärt – eine Richtlinie, die bis heute gilt. Grant schrieb: „Das Wort der Weisheit ist der Wille des Herrn.“
Fazit: Weisheit für unsere Zeit
Lehre und Bündnisse 89:1–4 verankert das Wort der Weisheit in einem Kontext göttlicher Fürsorge, prophetischer Weitsicht und geistiger Entwicklung. Es beginnt als freundliche Einladung, als „Gruß“, doch die Verheißung darin und die Warnung vor künftigen Gefahren verleihen ihm von Anfang an Gewicht. Die schrittweise Umwandlung in ein verbindliches Gebot ist Ausdruck göttlicher Pädagogik: zuerst Geduld, dann Einladung zur Umkehr, schließlich Heiligung durch Gehorsam.
So ist das Wort der Weisheit heute nicht nur ein Maßstab für körperliche Gesundheit, sondern auch ein Symbol des Bundesgehorsams – ein Zeichen, dass wir den Rat des Herrn annehmen, auch wenn er anfangs nur als freundliche Weisung erscheint.
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