In der Kirche gibt es zwei Priestertümer
- manfred.lobstein
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Petrus, Jakobus und Johannes übertragen das höhere Priestertum
(Bild: Quelle)
“In der Kirche gibt es zwei Priestertümer, nämlich das Melchisedekische und das Aaronische, welches das Levitische Priestertum einschließt.” (Lehre und Bündnisse 107:1).
Lehre und Bündnisse 107 – Historischer Kontext und Entstehung
L&B 107 gehört zu den bedeutendsten Offenbarungen über das Priestertum in der Frühzeit der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Der Abschnitt, wie er heute im Kanon der Heiligen Schriften steht, ist das Ergebnis einer längeren Entstehungsgeschichte und verschiedener Offenbarungen, die schließlich im Jahr 1835 zusammengeführt wurden. Sein Inhalt legt grundlegende Prinzipien über das Melchisedekische und das Aaronische Priestertum, über die Organisation von Räten und die Rolle des Hohen Priestertums dar. Um den Hintergrund dieser Offenbarung besser zu verstehen, lohnt es sich, die historischen Umstände zwischen 1831 und 1835 genauer zu betrachten.
Die ersten Offenbarungen über das Priestertum (1831–1832)
Schon kurz nach der Gründung der Kirche am 6. April 1830 wurde die Frage nach der Autorität und Ordnung des Priestertums drängend. Viele Gläubige stammten aus verschiedenen protestantischen Traditionen, in denen es zwar Prediger und Pastoren gab, aber kein Verständnis eines wiederhergestellten Priestertums mit göttlicher Vollmacht. Joseph Smith und Oliver Cowdery hatten bereits 1829 durch Johannes den Täufer das Aaronische Priestertum empfangen und kurz darauf von Petrus, Jakobus und Johannes das höhere Priestertum, das in dieser Zeit oft „Priestertum nach der Ordnung des Sohnes Gottes“ genannt wurde. In einer frühen Offenbarung erklärte der Herr: „Und jeder Priester wird nach der Ordnung des Sohnes Gottes genannt werden“ (vgl. L&B 107:3). Später wurde festgelegt, dass diese Ordnung nach Melchisedek benannt wird, „um die häufige Wiederholung des Namens des Sohnes Gottes zu vermeiden“ (L&B 107:4).
Schon 1831 gab es Versammlungen, in denen das Priestertum und seine Ämter besprochen wurden. Damals aber fehlte noch eine systematische Ordnung. Viele Mitglieder wussten nicht genau, welche Aufgaben Diakone, Lehrer, Priester oder Älteste hatten. Die Offenbarungen in Kirtland und Missouri führten Schritt für Schritt zu einer Klärung. Steven C. Harper weist darauf hin, dass diese Jahre von einer „Experimentierphase“ geprägt waren, in der der Herr die Kirche allmählich über die Strukturen des Priestertums belehrte (vgl. Harper, Doctrine and Covenants Contexts, 2021).
Die Bildung des Hohen Rates (1834)
Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur heutigen Form von L&B 107 war die Organisation des Hohen Rates in Kirtland im Februar 1834. Joseph Smith berief zwölf Männer, die als „Hoher Rat der Kirche“ fungieren sollten. Ihre Aufgabe war es, schwierige Fragen und Disziplinarfälle zu entscheiden. Die Niederschrift dieser Organisation und ihrer Regeln findet sich in Joseph Smiths History, und Teile davon wurden später in den Text von L&B 107 integriert. Damit wurde zum ersten Mal deutlich, dass die Kirche nicht nur aus einzelnen Priestertumsämtern bestand, sondern dass auch Räte von großer Bedeutung waren, in denen Entscheidungen durch gemeinsame Beratung und Einstimmigkeit getroffen wurden.
Die Kodifizierung 1835
Im Jahr 1835 stand die Kirche an einem entscheidenden Punkt. Die Veröffentlichung der Lehren und Bündnisse war in Vorbereitung. Dafür sollten die wichtigsten Offenbarungen gesammelt, geordnet und redaktionell bearbeitet werden. In diesem Zusammenhang wurde der heutige Abschnitt 107 zusammengestellt. Er vereint zwei größere Texte:
Ein Text von 1831, in dem die Ordnung des Priestertums und die Ämter erklärt werden (Verse 1–58).
Ein Text von 1835, der insbesondere die Aufgaben der Zwölf Apostel, der Siebziger und des Hohen Rates beschreibt (Verse 59–100).
Die Zusammenführung dieser beiden Dokumente zu einem einzigen Abschnitt erklärt, warum der Stil teilweise wechselt. Der erste Teil wirkt wie eine Grundsatzoffenbarung über das Priestertum seit Adam, während der zweite Teil stärker organisatorisch und auf die konkrete Kirchenleitung der 1830er-Jahre bezogen ist.
Doctrine and Covenants Central fasst dies so: „Lehre und Bündnisse 107 besteht aus mehreren miteinander verwobenen Offenbarungen, die erstmals 1835 veröffentlicht wurden. “ (Quelle).
Theologische Bedeutung: Priestertum seit Adam
Ein auffälliges Element von L&B 107 ist der Rückgriff auf die alttestamentliche Geschichte. Der Text erklärt: „Das Priestertum wurde von Generation zu Generation von Adam weitergegeben“ (vgl. L&B 107:40–41). Damit wird das Priestertum nicht als etwas Neues dargestellt, sondern als uralte Ordnung, die von Anfang an existierte. Im Buch Mormon findet sich ein ähnlicher Gedanke, wenn Alma von „den heiligen Ordnungen“ spricht, die „von Anfang an“ bestanden (vgl. Alma 13:1–3).
Diese Rückführung bis zu Adam hatte in der Frühzeit der Kirche eine doppelte Bedeutung: Einerseits stärkte sie das Bewusstsein, dass die Heiligen durch Joseph Smith Zugang zu einer ursprünglichen göttlichen Ordnung erhielten, die in den Jahrhunderten verloren gegangen war. Andererseits gab sie den Priestertumsträgern ein Vorbild, indem sie Adam als „erstes Oberhaupt“ des Priestertums darstellte (vgl. L&B 107:53).
Organisation der Zwölf und der Siebziger
Ein weiterer historisch entscheidender Schritt war die Organisation des Kollegiums der Zwölf Apostel im Februar 1835, kurz vor der endgültigen Redaktion von L&B 107. Diese Zwölf wurden von den drei Zeugen des Buches Mormon berufen. Ihre Aufgaben wurden in den neuen Abschnitten des Jahres 1835 genau definiert: „Die Zwölf sollen als ein reisendes Ratskollegium arbeiten, das zu allen Nationen der Erde gesandt ist“ (vgl. L&B 107:23). Kurz danach wurden auch die Siebziger berufen, die als Hilfskörper der Zwölf fungieren sollten (vgl. L&B 107:25). Diese organisatorischen Entwicklungen spiegeln sich direkt im zweiten Teil des Abschnitts wider.
Bedeutung für die frühe Kirche
Für die Mitglieder der 1830er-Jahre war L&B 107 ein Leitfaden, wie die Kirche wachsen und zugleich in Ordnung geführt werden konnte. In einer Zeit, in der Missionsreisen nach Kanada und bald auch nach England begannen, war die Festlegung von Aufgaben entscheidend. Ohne eine klare Ordnung hätte es leicht zu Chaos kommen können.
Auch heute gilt dieses Prinzip. Präsident Russell M. Nelson betonte: „Das Priestertum ist die Macht Gottes, die in Gerechtigkeit ausgeübt wird, um seine Kinder zu segnen. Diese Macht bringt Ordnung in das Werk des Herrn“ (General Conference, April 2016).
Veröffentlichung 1835 in Lehre und Bündnisse
Als die erste Ausgabe der L&B 1835 in Kirtland erschien, war Abschnitt 107 einer der umfangreichsten Texte im Buch. Er stand in direktem Zusammenhang mit der Errichtung des Hauses des Herrn in Kirtland (1833–1836), wo das Priestertum seine Vollmacht durch Endowment und Tempelverordnungen entfalten sollte. Damit war L&B 107 nicht nur eine theologische Grundsatzerklärung, sondern auch eine praktische Anleitung für die Kirchenführung im entscheidenden Jahrzehnt der frühen Wiederherstellung.
Fazit
Der geschichtliche Hintergrund von L&B 107 zeigt, dass dieser Abschnitt nicht auf einen einzigen Zeitpunkt zurückgeht, sondern das Ergebnis einer mehrjährigen Entwicklung ist. Beginnend mit Offenbarungen über das Priestertum im Jahr 1831, über die Organisation des Hohen Rates 1834 bis hin zur Berufung der Zwölf und Siebziger 1835, fasst L&B 107 die wachsende Erkenntnis über die Ordnung des Priestertums zusammen. Er verband alte theologische Wahrheiten – dass das Priestertum seit Adam existiert – mit den praktischen Erfordernissen einer jungen Kirche, die sich auf weltweite Missionsarbeit vorbereitete.
Heute wie damals erinnert uns dieser Abschnitt daran, dass die Kirche Jesu Christi durch Ordnung, Räte und Priestertumsvollmacht geführt wird. Der Herr selbst fasste es in diesem Abschnitt zusammen: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein regiere; darum werde ich Räte geben (L&B 107:27-30). Dieses Prinzip bleibt ein Leitstern für die Führung der Kirche in allen Zeiten.
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