Jede Seele ... wird mein Angesicht sehen
- manfred.lobstein
- 25. Aug.
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(Bild: Quelle)
“Wahrlich, so spricht der Herr: Es wird sich begeben: Jede Seele, die von ihren Sünden lässt und zu mir kommt und meinen Namen anruft und meiner Stimme gehorcht und meine Gebote hält, wird mein Angesicht sehen und wissen, dass ich bin” (Lehre und Bündnisse 93:1).
Lehre und Bündnisse 93 – Historie
1. Einleitung – Ort und Zeitpunkt der Offenbarung
L&B 93 wurde am 6. Mai 1833 in Kirtland, Ohio, Joseph Smith offenbart. Der Text wurde erstmals in der 1835 erschienenen Ausgabe der Doctrine and Covenants veröffentlicht und später weiter ausgearbeitet, etwa in einer Rede von Joseph Smith im Jahr 1839. Der Offenbarungstext entstand in einer Zeit intensiver Gemeindearbeit in Kirtland: Die Führung der Kirche bemühte sich um den Aufbau der „Schule der Propheten“ und plante den Bau eines eigenen Schulhauses; zeitgleich wurden neue Farmen für die Gemeinde erworben (rsc.byu.edu).
2. Hintergrund – Anlass der Offenbarung
Vor der Offenbarung hatten Joseph Smith, Sidney Rigdon und Frederick G. Williams – Mitglieder der Ersten Präsidentschaft – offenbar familiäre Unordnung erlebt, besonders der Umgang mit ihren Kindern. Die Offenbarung wurde ihnen als Mahnung gegeben: Sie sollten ihre Häuser in Ordnung bringen und ihren Kindern Licht und Wahrheit lehren (siehe hier). Richard D. Draper beschreibt, dass die Umstände der Offenbarung eng mit Gemeindearbeit, Führungsverantwortung und persönlichen Herausforderungen verknüpft waren (rsc.byu.edu+1YouTube+1).
3. Inhaltlicher Aufbau und theologische Konzepte
3.1 Erste Hälfte: Göttliche Wahrheiten über Christus und den Menschen (Verse 1–38)
Bündnis: Wer sündigt und Christus nachfolgt, wird Ihn sehen (Vs. 1–5): Jeder, der aufrichtig Umkehr übt, Christus anruft und Seine Gebote hält, wird Sein Angesicht sehen und erkennen, dass Er ist.
Christi Wachstum von „Gnade zu Gnade“ (Vs. 6–14): Christus empfing nicht von Anfang an die volle Herrlichkeit, sondern wuchs schrittweise bis zur Vollendung (L&B 93:12‑13). In Vers 8-9 wird Er als „Licht und Erlöser der Welt“ bezeichnet.
Potenzial des Menschen (Vs. 19–28): Wie Christus aus Licht und Wahrheit wuchs, können auch Menschen durch Gehorsam eine Fülle enthalten. „Wer seine Gebote hält, empfängt Wahrheit und Licht, bis er in der Wahrheit verherrlicht ist und alles weiß.“ (Vs. 28; siehe auch hier).
Existenz vor der Geburt und Bewahrung der Intelligenz (Vs. 29–35): Menschen existierten geistig mit Gott „im Anfang“ und Intelligenz wurde nicht geschaffen, sondern ist ewig; die Elemente sind ewig und bilden die Grundstruktur der Schöpfung (Vs. 33–34).
Die Herrlichkeit Gottes = Intelligenz, Licht und Wahrheit (Vs. 36‑37): D&C 93:36 erklärt: „Die Herrlichkeit Gottes ist Intelligenz, oder mit anderen Worten Licht und Wahrheit.“ Wahrer Gottesdienst besteht darin, durch Lernen und Wahrheitserkenntnis Gott nachzuahmen (siehe auch hier).
Unschuld der Kinder (Vs. 38–40): Kinder gelten als unschuldig vor Gott, aufgrund der Erlösung durch Christus; Vers 42 verbindet Kindererziehung mit spiritueller Autorität: mangelndes Lehren von Licht und Wahrheit gibt dem „Bösen“ Einfluss über die Familie.
3.2 Zweite Hälfte: Praktische Anweisungen zur Haushaltsordnung (Verse 41–53)
In den letzten Versen erhalten Joseph Smith, Frederick G. Williams, Sidney Rigdon und Newel K. Whitney die Anweisung, ihre Familien in spiritueller und alltäglicher Ordnung zu führen – insbesondere, ihre Kinder durch Licht und Wahrheit zu lehren. Dies sind persönliche, praktische Anwendungen der zuvor dargelegten theologischen Wahrheiten (siehe auch hier).
4. Wesentliche theologische Einsichten
4.1 Gottes- und Christusverständnis
Einheit von Vater und Sohn: Christus erklärt: „Ich bin im Vater und der Vater in mir, und der Vater und ich sind eins“ (Vs. 3). Er fungiert als Mittler und Offenbarer des Vaters, als dessen Vertreter in Vollmacht und Autorität – ein Konzept, das als „divine investiture of authority“ bekannt ist (siehe hier).
Der Mensch als intelligentes Wesen: L&B 93 lehnt die Idee einer Erschaffung des Geistes oder der Intelligenz durch Gott vollständig ab; Intelligenz ist ewig. Damit offeriert es eine eigene Lösungsvision zu klassischen theologischen Fragen wie „ex nihilo“-Schöpfung und menschlicher Agentur – siehe Madsens Zusammenfassung zahlreicher theologischer Probleme (Doctrine and Covenants CentralDoctrine and Covenants Central).
4.2 Licht, Wahrheit, Gnade und göttliches Wachstum
Licht und Wahrheit sind nicht bloße Metaphern, sondern Elemente göttlicher Substanz, denen der Mensch durch Gehorsam entgegnen kann (L&B 93:28, 36).
Gnade für Gnade: Geistiges Wachstum geschieht Schritt für Schritt – sowohl bei Christus wie auch beim gläubigen Menschen (Vs. 12–14, 19–20).
4.3 Kindererziehung und Familienführung
In dem abrupten Wechsel bei Vers 40 bis 41 zeigt sich, dass die großen theologischen Wahrheiten eine konkrete Anwendung fordern: Die Hausväter wurden getadelt, weil sie ihren Kindern nicht Licht und Wahrheit vermittelt hatten. Die Offenbarung verknüpft daher kosmische Wahrheit mit familiärer Verantwortlichkeit (Doctrine and Covenants Centralrsc.byu.edu).
5. Wirkung, Rezeption und fortgesetzte Relevanz
Frühe Rezeption: Bereits 1835 wurde das Dokument im Buch Lehre und Bündnisse veröffentlicht. Joseph Smith sprach später erneut über ähnliche Themen – etwa dass der Geist des Menschen unerschaffen und ewig sei (siehe hier).
Lehrmaterialien: Die Inhalte fließen bis heute in Unterrichtsleitfäden der Kirche ein – beispielsweise in den Seminaren und Schulungsunterlagen („Lehre und Bündnisse 93: Überblick“, „Lesson 107/108“ etc.), die zentrale Themen wie Wissen um Christus, Empfang von Licht und Wahrheit, und familiäre Ordnung zum Schwerpunkt haben (churchofjesuschrist.org/study/manual/doctrine-and-covenants-seminary-teacher-manual-2025/340-doctrine-and-covenants).
Moderne theologische Diskussion: Institutionen wie das BYU Religious Studies Center haben die Schlüsselthemen Licht, Wahrheit und Gnade vertieft analysiert. Lehren über geistige Vorexistenz, das Wachstum Christi und die Beziehung zwischen Vater und Sohn werden dort fokussiert diskutiert (rsc.byu.edursc.byu.eduDoctrine and Covenants Central).
6. Fazit und Zusammenfassung
Lehre und Bündnisse 93 zählt zu den theologisch reichsten Offenbarungen der frühen Kirchengeschichte. Sie verbindet:
Eine klare Christologie: Christus wuchs von Gnade zu Gnade, ist im Vater und offenbart Ihn.
Eine robuste Anthropologie: Menschen existieren geistig vor der Geburt, Intelligenz ist ewig.
Eine inspirierende Lehre über Licht, Wahrheit und göttliches Wachstum als wesentliche Bestandteile der Erlösung.
Konkrete Aufforderungen zur Familien- und Erziehungsethik, vor allem an die höchsten Führungsorgane der Kirche damals.
Historisch wurde die Offenbarung im Kontext der Gemeindearbeit in Kirtland 1833 empfangen, als Kirche und Gemeinde führten, bauten und litten – und geistlich korrigiert werden sollten. Bis heute prägt L&B 93 die Lehre, das Familienverständnis und das geistige Selbstbild vieler Gläubiger, vor allem in Bezug auf persönliches Wachstum durch Gehorsam und die Zielsetzung, durch Lernen Gott ähnlich zu werden.
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