Mit Macht aus der Höhe auszurüsten
- manfred.lobstein
- vor 2 Tagen
- 5 Min. Lesezeit

Kirtland-Tempel
(Bild: Quelle)
“Ja, wahrlich, ich sage euch: Ich habe euch das Gebot gegeben, ein Haus zu bauen, und in dem Haus beabsichtige ich, diejenigen, die ich erwählt habe, mit Macht aus der Höhe auszurüsten;” (Lehre und Bündnisse 95:8).
Lehre und Bündnisse 95 – Historischer Hintergrund und geistliche Lehren
Die Offenbarung in Lehre und Bündnisse 95 wurde am 1. Juni 1833 in Kirtland, Ohio, empfangen und ist in einem besonderen Zusammenhang mit dem Bau des ersten Tempels der Wiederherstellung zu sehen – dem Kirtland-Tempel. Während viele Abschnitte im Buch Lehre und Bündnisse Trost, Hoffnung oder tiefgreifende Lehren über das Wesen Gottes und des Evangeliums vermitteln, ist Abschnitt 95 bemerkenswert direkt und mahnend. Er enthält sowohl eine ernste Zurechtweisung als auch eine inspirierende Einladung zur Umkehr und zum Handeln. Um diesen Text richtig zu verstehen, muss man sich die historischen Umstände der Heiligen zu dieser Zeit sowie die übergeordneten theologischen Zusammenhänge vergegenwärtigen.
Der Auftrag zum Tempelbau
Bereits am 6. Mai 1833 – nur wenige Wochen vor dieser Offenbarung – hatten Joseph Smith und andere Führer der Kirche eine Vision des himmlischen Tempels empfangen (vgl. Lehre und Bündnisse 94). Diese Vision war ein göttlicher Entwurf für ein „Haus des Herrn“, in dem heilige Verordnungen vollzogen werden könnten, darunter die Waschungen und Salbungen, die später in Kirtland eingeführt wurden. Zudem war der Tempel als ein Ort für Belehrung, Offenbarung und Sammlung gedacht. Obwohl diese himmlische Architektur den Heiligen bekannt gemacht worden war, hatten sie es versäumt, rechtzeitig mit dem Bau zu beginnen. Die Verzögerung war teilweise aus Furcht, organisatorischer Unsicherheit und mangelnder Vorbereitung entstanden – doch für den Herrn war dies eine schwerwiegende Versäumnis.
Lehre und Bündnisse 95 beginnt daher mit einer scharfen Zurechtweisung an die Führer der Kirche. Sie werden daran erinnert, dass der Herr diejenigen liebt, die er züchtigt – ein Motiv, das sich auch in anderen Schriften findet, etwa in Hebräer 12:6 und Offenbarung 3:19. Auch im Buch Mormon (z. B. 2. Nephi 4 oder Alma 37) wird immer wieder betont, dass der Herr seine Kinder erzieht, um sie auf höhere geistige Stufen zu führen. Diese Züchtigung dient nicht der Strafe um der Strafe willen, sondern ist Ausdruck göttlicher Fürsorge. Sie soll die Heiligen zur Umkehr und zur Tat bewegen.
Geistige Bildung und Vorbereitung für größere Segnungen
Ein zentraler Punkt der Offenbarung ist die Notwendigkeit, ein „Haus“ zu bauen, das nicht nur physisch, sondern auch geistig ein Ort der Heiligkeit und Offenbarung sein sollte. Der Herr weist darauf hin, dass dieses Haus ein Ort der Ordnung sein soll, worin er sein Volk unterweisen möchte. Hier zeigt sich eine tiefe theologische Linie: Der Tempel ist nicht nur ein Ort der Rituale, sondern ein göttliches Bildungszentrum. Der Kirtland-Tempel wurde später auch tatsächlich zu einem Ort, an dem verschiedene Klassen und Lehrveranstaltungen abgehalten wurden – sowohl theologische als auch weltliche (z. B. Sprachen und Naturwissenschaften), wie auch in Lehre und Bündnisse 88:78–80 gefordert.
Durch diese Offenbarung wird deutlich, dass die Tempelidee in der Wiederherstellung nicht nur sakramental gedacht ist, sondern auch als eine Schule der Propheten, in der das Volk Gottes für seine göttliche Berufung vorbereitet wird. Dieser Gedanke erinnert stark an das Alte Testament, etwa an die Stiftshütte in der Wüste oder an den Tempel Salomos, der ein Zentrum der göttlichen Gegenwart war (vgl. 2. Mose 25; 1. Könige 8).
Die Dringlichkeit des Auftrags
Ein weiterer Aspekt dieser Offenbarung ist die Dringlichkeit, mit der der Herr den Bau des Tempels fordert. Die Zeit sei knapp, und große Segnungen seien an die Bereitschaft geknüpft, dieses Werk auszuführen. Das erinnert an die Worte Jesu im Neuen Testament, wo er seine Jünger zur Wachsamkeit und Bereitschaft aufruft (vgl. Matthäus 25:1–13). Auch die Propheten im Buch Mormon, etwa Mormon und Moroni, berichten davon, dass Zeiten großer geistiger Segnungen immer mit Treue, Gehorsam und Vorbereitung verbunden sind.
Interessant ist, dass der Herr in Lehre und Bündnisse 95 nicht nur zur Umkehr auffordert, sondern auch ein Versprechen macht: Wenn die Heiligen seinen Willen tun, wird er sich ihnen offenbaren, sie unterweisen und sein Haus mit Herrlichkeit erfüllen. Diese Zusage wurde bald Wirklichkeit: Nur wenige Jahre später – am 27. März 1836 – wurde der Kirtland-Tempel geweiht, und kurz darauf erschienen in einer visionären Manifestation Moses, Elias und Elija, um Schlüssel des Priestertums zu übertragen, ja sogar der Herr selbst erschien (vgl. Lehre und Bündnisse 110). Dies war ein direkter Lohn für den Gehorsam der Heiligen gegenüber der in Abschnitt 95 erteilten Weisung.
Geistige Reinigung und persönliche Heiligung
Ein weiterer Schwerpunkt der Offenbarung ist die persönliche Heiligung der Heiligen. Der Tempelbau war nicht nur ein architektonisches Projekt, sondern ein geistiger Prozess. Wer ein Haus des Herrn bauen will, muss selbst ein Tempel des Heiligen Geistes sein – ein Prinzip, das Paulus bereits im 1. Korintherbrief betonte (vgl. 1. Korinther 3:16–17). Der Herr forderte seine Heiligen daher nicht nur auf, Steine zu bewegen und Fundamente zu gießen, sondern sich auch geistig vorzubereiten, um in seinem Haus empfangen zu werden. Dies betraf sowohl moralisches Verhalten als auch das Studium göttlicher Wahrheit.
Diese Kombination aus individueller Heiligung und kollektiver Anstrengung für das Reich Gottes ist charakteristisch für viele Offenbarungen der Wiederherstellung. Der Herr ruft sein Volk nicht nur zum individuellen Fortschritt auf, sondern auch zu einer gemeinsamen Vorbereitung auf das Kommen des Herrn und die Errichtung Zions. Abschnitt 95 zeigt exemplarisch, wie sehr diese beiden Ebenen – persönlich und gemeinschaftlich – miteinander verwoben sind.
Verbindung zu anderen Offenbarungen und heutigen Anwendungen
Die Aufforderung in Lehre und Bündnisse 95 steht in engem Zusammenhang mit anderen Offenbarungen über den Tempelbau. In Lehre und Bündnisse 88 hatte der Herr bereits Weisung zum Bau eines Hauses gegeben, „das dem Herrn geweiht ist“. In Abschnitt 94 wurden konkrete Pläne für den Bau zweier Häuser offenbart – eines für die Erste Präsidentschaft und ein weiteres als Versammlungs- und Unterrichtsgebäude. Abschnitt 95 wiederum macht deutlich, dass es sich bei diesen Plänen nicht um bloße Empfehlungen handelte, sondern um göttliche Gebote mit ernsten Konsequenzen bei Vernachlässigung.
Die heutige Relevanz dieser Offenbarung ist deutlich: Auch heute lädt der Herr seine Heiligen ein, sich auf den Tempel vorzubereiten – sei es durch persönliche Würdigkeit, durch den Dienst an den Verstorbenen oder durch Unterstützung beim Bau neuer Tempel. Präsident Russell M. Nelson hat in unserer Zeit immer wieder betont, dass der Tempel das Zentrum geistiger Stärke und Offenbarung ist. Die Mahnung des Herrn in Abschnitt 95 – nicht zu zaudern, sondern mutig voranzugehen – ist daher auch heute aktuell.
Fazit
Lehre und Bündnisse 95 ist eine kraftvolle Mahnung zur Umkehr, zum Gehorsam und zur aktiven Mitwirkung am Aufbau des Reiches Gottes. Die Heiligen in Kirtland hatten eine große Vision empfangen, aber sie hatten gezögert, sie umzusetzen. Der Herr rief sie zur Ordnung – nicht aus Zorn, sondern aus Liebe. Er wollte sie segnen, aber der Segen war an Bedingungen geknüpft. Dieser Abschnitt erinnert uns daran, dass der Herr unsere Mitarbeit erwartet, dass er uns aber auch mit Macht und Herrlichkeit begegnet, wenn wir seine Gebote befolgen. Der Bau des Kirtland-Tempels wurde zur Erfüllung dieser Verheißung – und ist bis heute ein Symbol für die Segnungen, die dem Gehorsam folgen.
Kommentare