Uns gingen die Augen unseres Verständnisses auf
- manfred.lobstein
- 2. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

(Bild: Quelle)
“Der Schleier wurde von unserem Sinn weggenommen, und uns gingen die Augen unseres Verständnisses auf.” (Lehre und Bündnisse 110:1).
Lehre & Bündnisse 110 – Historie
Einleitung – Der heilige Hintergrund Am Ostersonntag, dem 3. April 1836, ereignete sich im frisch geweihten Kirtland-Tempel ein zutiefst bedeutsames Ereignis für die Bewegung der Heiligen der Letzten Tage. Joseph Smith und Oliver Cowdery hielten im Rahmen des Abendmahls eine stille, von Vorhängen umgebene Andacht im obersten Priestersitz (dem sogenannten Melchisedekischen-Pult). Nach den Tagen der Tempelweihung, die bereits von einer starken geistigen Atmosphäre geprägt gewesen waren, suchten die beiden Führer in stiller Sammlung göttliche Bestätigung. In dieser ruhigen Andacht öffnete sich der Himmel, und sie empfingen eine Vision, die nicht nur den Kirtland-Tempel selbst, sondern das gesamte Werk der Wiederherstellung für die Zukunft prägte.
Der Ablauf der Vision Zunächst erschien ihnen der auferstandene Jesus Christus. Er erklärte feierlich, dass er das Haus angenommen habe, das die Heiligen mit großen Opfern gebaut hatten. Diese göttliche Bestätigung war für die Gemeinde in Kirtland ein Zeichen, dass ihre Mühen nicht vergeblich gewesen waren. Christus bekräftigte, dass seine Herrlichkeit nun in diesem Haus ruhe und dass sein Name dort angerufen werden solle. Kurz darauf öffnete sich die Vision weiter: Moses trat auf und übergab die Schlüssel der Sammlung Israels. Damit wurde das Werk der Mission, die Verkündigung des Evangeliums in alle Nationen und das Zusammenführen des zerstreuten Bundesvolkes bekräftigt. Daraufhin erschien Elias, der die Dispensation des Evangeliums Abrahams übertrug – das Versprechen, dass Familien durch das Priestertum in Ewigkeit gesegnet werden können. Schließlich kam Elija (oder Elias im griechischen Neuen Testament), der die Worte des Propheten Maleachi erfüllte, indem er die Schlüssel offenbarte, die das Herz der Väter den Kindern zuwenden und das der Kinder den Vätern. Damit war die Grundlage für das Werk der Familiengeschichte und der Siegelungen gelegt, was bis heute zu den zentralen Praktiken in Tempeln der Kirche gehört.
Die unmittelbare Aufzeichnung Bemerkenswert ist, dass diese Vision nicht in Predigten oder öffentlichen Erklärungen direkt nach dem Erlebnis erwähnt wurde. Vielmehr wurde sie diskret im persönlichen Tagebuch Joseph Smiths vermerkt. Tatsächlich schrieb nicht Joseph selbst die Worte nieder, sondern Warren A. Cowdery, der Bruder Olivers, der als Schreiber diente. Er fasste das Geschehen in der dritten Person zusammen – eine Formulierung, die sich von Josephs üblichen Offenbarungsaufzeichnungen in der Ich-Perspektive unterschied. Damit blieb die Vision zunächst eher wie eine vertrauliche Tagebuchnotiz erhalten als wie eine öffentliche Offenbarung. Erst einige Jahre später übertrug Willard Richards, der als offizieller Kirchenhistoriker tätig war, den Bericht in die Ich-Form, um ihn in die umfassende Kirchenchronik einzubetten.
Vom Tagebuch zur kanonischen Offenbarung Diese Entwicklung zeigt, dass Abschnitt 110 nicht sofort wie andere Offenbarungen den Gläubigen verkündet wurde. Während viele Visionen und Offenbarungen Josephs noch am selben Tag oder kurz darauf in Kirtland oder Missouri in Umlauf kamen, blieb diese Vision eher verborgen. Sie wurde erst 1852, mehr als 15 Jahre nach Josephs Tod, in der „Deseret News“ erstmals veröffentlicht. Bis dahin war sie nur in handschriftlichen Aufzeichnungen erhalten. Die eigentliche Kanonisierung erfolgte schließlich 1876, als Orson Pratt die Doctrine and Covenants neu herausgab und im Auftrag Brigham Youngs mehrere zusätzliche Abschnitte hinzufügte. Seitdem gehört Abschnitt 110 fest zum Kanon der Kirche.
Bedeutung für die damalige Zeit Für die frühen Heiligen war die Botschaft, dass Christus den Tempel angenommen hatte, eine entscheidende Bestätigung. Der Bau hatte die Gemeinde in Kirtland an die Grenze ihrer Kräfte gebracht – finanziell, organisatorisch und geistig. Viele Gläubige hatten große Opfer gebracht, um dieses erste Haus des Herrn in den Letzten Tagen zu errichten. Die Erscheinung Christi machte deutlich: Das Opfer war nicht umsonst, sondern Gott selbst hatte das Werk bejaht. Ebenso wichtig war die Übergabe der Schlüssel: Schon wenige Jahre später sandte die Kirche Missionare nach England. Diese erste große Missionsbewegung wäre ohne die Vision von 1836 kaum in derselben geistigen Kraft denkbar gewesen.
Theologische Tragweite Abschnitt 110 bildet eine Art Scharnier zwischen der Tempelweihung (Abschnitt 109) und der zukünftigen Entwicklung der Kirche. Die Schlüssel, die hier übergeben wurden, prägen das kirchliche Leben bis heute. Moses’ Schlüssel erinnern daran, dass das Evangelium allen Nationen gilt. Elias’ Gabe knüpft an die Verheißungen an Abraham, Isaak und Jakob an, und Elijas Macht gründet das Verständnis von Familienbande in der Ewigkeit. Damit sind in dieser Vision alle Hauptthemen der Tempeltheologie zusammengefasst: Sammlung, Verheißung, Ewigkeit. Dass all dies am Ostersonntag geschah, verstärkt die Symbolik: Die Auferstehung Christi wird hier mit der Wiederherstellung seiner Vollmacht verbunden.
Späte Rezeption Erst in Utah, als die Kirche bereits eine neue Phase ihrer Geschichte erreicht hatte, wurde Abschnitt 110 breiter bekannt. Seine Aufnahme in die Lehre und Bündnisse machte ihn zu einem zentralen Bezugspunkt für Lehre, Predigt und Tempelarbeit. Die Vision wurde rückblickend als entscheidende Wende verstanden: Von da an war die Kirche in der Lage, alle Verheißungen der alten Dispensationen wiederherzustellen und zu verwirklichen.
Zusammenfassung So durchläuft Abschnitt 110 einen bemerkenswerten Weg: von der intimen Tagebuchnotiz über die kirchliche Chronik, von der Erstveröffentlichung in einer Zeitung bis zur endgültigen Kanonisierung als heilige Schrift. Der Text veranschaulicht, wie Offenbarungen in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage nicht nur unmittelbare Ereignisse waren, sondern durch sorgfältige Aufzeichnung, Tradierung und Bestätigung zur Grundlage bleibender Lehre wurden. Für die Gläubigen von damals war es die Zusicherung, dass Gott ihr Werk annimmt und sie bevollmächtigt; für die Kirche von heute ist es ein Bezugspunkt für das Verständnis von Tempeln, Priestertumsschlüsseln und der ewigen Familie. Abschnitt 110 zeigt, wie Visionen nicht nur persönliche Erfahrungen bleiben, sondern durch den Prozess der Bewahrung und Kanonisierung zur gemeinschaftlichen Grundlage des Glaubens werden – eine Brücke zwischen der Intimität einer einzelnen Offenbarung und der Öffentlichkeit einer universellen Lehre.
Kommentare