Wahrlich, ich sage dir, mein Diener Frederick G. Williams
- manfred.lobstein
- 21. Juli
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(Bild: Quelle)
“Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, mein Diener Frederick G. Williams: Höre auf die Stimme dessen, der redet, auf das Wort des Herrn, deines Gottes, und höre auf die Berufung, zu der du berufen wirst, nämlich in meiner Kirche ein Hoher Priester und meinem Diener Joseph Smith Jr. ein Ratgeber zu sein,” (Lehre und Bündnisse 81:1).
Lehre und Bündnisse 81– Historischer Kontext und Personen
Der Abschnitt 81 des Buches Lehre und Bündnisse ist auf den ersten Blick ein kurzer Text mit eher allgemeinen Ermahnungen an einen Ratgeber von Joseph Smith. Doch ein genauerer Blick auf seine Entstehung und auf die beteiligten Personen offenbart ein faszinierendes Kapitel der Frühgeschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Dieser Abschnitt ist auch deshalb bemerkenswert, weil er ursprünglich für einen Mann gegeben wurde, der beinahe völlig aus der Kirchengeschichte verschwunden wäre: Jesse Gause.
Entstehungshintergrund
Lehre und Bündnisse 81 wurde im März 1832 in Hiram, Ohio empfangen. Diese Zeit war geprägt von intensiver Offenbarung, organisatorischem Aufbau und persönlicher Prüfung für Joseph Smith. Nur wenige Tage zuvor, am 8. März 1832, hatte Joseph Smith durch Offenbarung das Erste Präsidentschaft der Kirche berufen. Dieses Kollegium bestand aus ihm selbst als Präsident und zwei Ratgebern. Einer dieser Ratgeber war Jesse Gause, der zum Zeitpunkt der Offenbarung als „zweiter Ratgeber“ eingesetzt wurde. Doch diese Personalie sollte sich bald als instabil erweisen.
Der ursprüngliche Text von Lehre und Bündnisse 81 richtete sich explizit an Jesse Gause. Spätere Abschriften und die heute bekannte Version ersetzen jedoch seinen Namen durch den von Frederick G. Williams. Dieser Umstand ist kein redaktioneller Zufall, sondern das Ergebnis der wechselhaften Treue und Teilnahme Gause’ am Werk der Kirche.
Jesse Gause – ein fast vergessener Ratgeber
Jesse Gause war zur Zeit seiner Berufung ein gläubiger und hochgebildeter Mann. Geboren 1785 in Pennsylvania, hatte er früher den Quäkern angehört und später der utopischen Shaker-Gemeinschaft beigetreten. Seine Wege führten ihn um 1831 zu den Heiligen der Letzten Tage. Er war ein Mann mit Erfahrung im geistigen Leben, Autorität und Führungsqualitäten. Im März 1832 wurde er zum Ratgeber Joseph Smiths ordiniert – eine Position von hohem Vertrauen und Einfluss.
Doch nur wenige Monate später, im Sommer 1832, verschwand Jesse Gause aus der kirchlichen Führung. Historischen Berichten zufolge hatte er eine Missionsreise mit Zebedee Coltrin unternommen. Auf dieser Reise besuchte er seine Familie, die offenbar seinen neuen Glauben nicht akzeptierte. Danach kehrte er nicht mehr aktiv zur Kirche zurück. In offiziellen Kirchenaufzeichnungen wird sein Name bald ausgelassen, und sein Platz in der Ersten Präsidentschaft wurde neu besetzt.
Dass Jesse Gause fast vollständig aus der Erinnerung der Kirche verschwand, lag zum Teil an seiner kurzen Amtszeit und daran, dass er in späteren kirchlichen Veröffentlichungen durch den Namen Frederick G. Williams ersetzt wurde. Erst durch historisch-kritische Forschung im 20. Jahrhundert wurde seine ursprüngliche Rolle wiederentdeckt.
Frederick G. Williams – treuer Helfer und Arzt
Frederick Granger Williams wurde 1787 in Suffield, Connecticut, geboren. Er war Arzt von Beruf und hatte bereits verschiedene religiöse Bewegungen durchlaufen, bevor er 1830 mit den Lehren von Sidney Rigdon in Berührung kam und sich 1831 der Kirche anschloss. Als gebildeter Mann und erfahrener Missionar wurde Williams rasch zu einer Stütze für Joseph Smith.
Nach dem Verschwinden Jesse Gauses übernahm Frederick G. Williams dessen Stelle in der Ersten Präsidentschaft der Kirche. Dieses Amt übte er von 1832 bis 1837 aus. Er war nicht nur Berater, sondern auch Schreiber für Joseph Smith und begleitete ihn auf mehreren wichtigen Reisen. Seine Nähe zum Propheten wird auch dadurch deutlich, dass Joseph ihm 1836 einen Segen gab, in dem er prophezeite, dass Williams im Millennium mit Christus herrschen werde.
In den Turbulenzen der Kirtland-Zeit, insbesondere in der Finanzkrise um die Kirtland Safety Society, verlor Williams jedoch kurzzeitig das Vertrauen der Kirchenführung. Er wurde 1837 aus der Ersten Präsidentschaft entlassen und schloss sich zeitweise sogar den Gegnern Joseph Smiths in Kirtland an. Doch später zeigte er Reue und wurde wieder aufgenommen. Er starb 1842 in Quincy, Illinois.
Textentwicklung und Namensänderung
Die ursprüngliche Fassung der Offenbarung von Abschnitt 81 nannte Jesse Gause als Adressaten. Diese Version wurde offenbar nicht weit verbreitet. Nachdem Gause seine Berufung nicht erfüllte und faktisch aus der Kirche austrat, wurde der Text mit dem Namen Frederick G. Williams versehen. Da sich die Verheißungen und Anweisungen in Abschnitt 81 allgemein auf das Amt eines Ratgebers in der Ersten Präsidentschaft bezogen, konnten sie auch auf Williams übertragen werden.
Diese Praxis – eine bereits offenbarte Anweisung auf einen neuen Amtsträger zu übertragen – zeigt den pragmatischen Umgang Joseph Smiths mit Offenbarung: Sie war nicht statisch, sondern lebendig und konnte sich den Umständen anpassen. Auch andere Abschnitte im Buch Lehre und Bündnisse zeigen vergleichbare Muster.
Die namentliche Substitution in Lehre und Bündnisse 81 war lange Zeit unbeachtet geblieben. Erst moderne historische Studien, insbesondere durch die Joseph Smith Papers, machten diese redaktionelle Entwicklung transparent. Heute ist allgemein anerkannt, dass der Abschnitt ursprünglich Jesse Gause betraf, in der veröffentlichten Fassung jedoch auf Frederick G. Williams umgestellt wurde.
Bedeutung für die Kirchenorganisation
Lehre und Bündnisse 81 ist damit nicht nur eine Ermahnung an einen einzelnen Führer, sondern ein Zeugnis für die frühen Bemühungen, eine stabile Kirchenleitung aufzubauen. Die Erste Präsidentschaft als Kollegium aus dem Präsidenten der Kirche und zwei Ratgebern war eine neue Struktur, die im Laufe der Jahre fest etabliert wurde. Die Tatsache, dass einer der ersten Ratgeber ausstieg, stellte diese Organisation vor eine frühe Belastungsprobe. Die Berufung Frederick G. Williams und die Anpassung der Offenbarung bezeugen den Wunsch, Kontinuität trotz menschlicher Schwächen zu wahren.
Schlussbemerkung
Lehre und Bündnisse 81 ist historisch ein Fenster in die dynamische und oft herausfordernde Anfangszeit der Kirche. Es erzählt nicht nur von göttlicher Führung, sondern auch von menschlicher Entscheidungsfreiheit – und ihren Konsequenzen. Jesse Gause, fast vergessen, war Teil eines göttlichen Plans, den er nicht erfüllte. Frederick G. Williams nahm seinen Platz ein und diente treu, wenn auch nicht fehlerfrei. In ihrer Geschichte spiegelt sich das größere Thema der Offenbarung: Gott ruft Menschen, doch wie sie mit dieser Berufung umgehen, liegt in ihren Händen.
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