Witwen und Waisen sollen versorgt werden
- manfred.lobstein
- vor 4 Tagen
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(Bild: Quelle)
“Und das Vorratshaus soll durch die Weihungen aus der Kirche erhalten bleiben; und Witwen und Waisen sollen versorgt werden, ebenso die Armen. Amen.” (Lehre und Bündnisse 83:6).
Vers-für-Vers-Kommentar zu Lehre und Bündnisse 83 im Lichte der Bibel
Die Offenbarung eröffnet mit dem Hinweis, sie sei „zusätzlich zu den Gesetzen der Kirche in Bezug auf Frauen und Kinder“ gegeben (L&B 83:1). Schon zuvor hatte der Herr im Weihegesetz (L&B 42) allgemeine Fürsorgeregeln formuliert, doch jetzt wendet er das Prinzip ausdrücklich auf diejenigen an, „die ihren Ehemann oder Vater verloren haben“. Der biblische Hintergrund liegt im alttestamentlichen Schutzgebot für „Witwen und Waisen“ (5 Mose 24,17; Ps 146,9). Darin erscheint Gott selbst als Anwalt der Entrechteten: „Vater der Waisen und Richter der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung“ (Ps 68,6). Joseph Smiths Frage in der Ratsversammlung spiegelt somit eine uralte Tora-Thematik: Wer vertritt die Schwächsten, wenn die natürliche Schutzkette reißt?
Vers 2 legt fest, dass Frauen Anspruch auf den Unterhalt ihres Mannes haben, „bis ihr Mann weggenommen wird“. Das Wort Anspruch (engl. claim) klingt juristisch und verleiht der Fürsorgepflicht rechtliche Schärfe. Paulus bekräftigt denselben Grundsatz, wenn er schreibt: „Wer aber für die Seinigen, zumal für die Hausgenossen, nicht sorgt, der hat den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1 Tim 5,8). In beiden Texten steht das patriarchale Ideal des Versorgers, doch schon die Formulierung „bis ihr Mann weggenommen wird“ signalisiert, dass diese Ordnung endlich ist. Stirbt oder verschwindet der Ernährer, muss die Gemeinschaft einspringen. Der Vers fügt außerdem eine geistliche Dimension hinzu: Treue Frauen „sollen Gemeinschaft in der Kirche haben“. Damit wird ihrer Würde im Glaubensbund Rechnung getragen; sie bleiben nicht nur Nutznießerinnen eines Sozialfonds, sondern vollwertige Bundesgeschwister.
Vers 3 enthält eine bemerkenswerte Ausgleichsklausel. Untreuen Frauen wird die Gemeinschaft entzogen, doch „sie dürfen gemäß den Gesetzen des Landes auf ihrem Erbteil verbleiben“. Hier kollidieren kanonisches Recht (Ausschluss von der Kirche) und säkulares Eigentumsrecht. Schon Mose hatte geboten, einem armen israelitischen Schuldner sein Pfand über Nacht zurückzugeben (2 Mose 22,25–26); ähnlich respektiert dieser Vers die zivilen Besitzrechte, selbst wenn die geistliche Mitgliedschaft ruht. In Missouri des Jahres 1832 bedeutete das konkret: Eine Witwe, die den Glauben verließ, konnte nicht ohne Weiteres von ihrem Hof vertrieben werden, weil Gerichte ihr Besitzrecht stützten. Die Offenbarung akzeptiert diese Rechtslage, anstatt sie mit kirchlichem Zwang zu überschreiben – ein Beispiel pragmatischer Trennung von Heilsgemeinschaft und Staatsbürgerschaft.
Vers 4 weitet das Unterhaltsgebot auf alle Kinder aus: Sie „haben Anspruch auf ihre Eltern … bis sie mündig sind“. Das hebräische Denken kennt dieselbe Priorität: „Kinder sind eine Gabe des HERRN“ (Ps 127,3) und damit Verantwortung der Eltern. Paulus mahnt Väter, ihre Kinder zu nähren „in der Zucht und Ermahnung des Herrn“ (Eph 6,4). Im zeitgenössischen US-Recht waren Minderjährige in erster Linie Erben männlichen Vermögens; L&B 83 geht hier weiter, indem es nicht Besitz, sondern laufenden Unterhalt als Anspruch definiert. Sobald Kinder jedoch das Erwachsenenalter erreichen, wechselt die Zuständigkeit: Sie dürfen – falls nötig – die Ressourcen der Kirche beanspruchen.
Damit sind wir bei Vers 5, der die Brücke vom Familienverband zur Gemeindekasse schlägt. Ist kein Erbteil vorhanden, haben junge Erwachsene „Anspruch … an das Vorratshaus des Herrn“. Dieser Begriff erinnert an Mal 3,10, wo der Herr Israel auffordert, den Zehnten in sein Vorratshaus zu bringen, „auf dass in meinem Hause Speise sei“. Auch im Gesetz Mose gab es neben dem Zehnten ein Armenzehnt-Jahr (5 Mose 14,28–29), in dem Abgaben ausdrücklich für „Waisen und Witwen“ bestimmt waren. Die Offenbarung verknüpft diese mosaische Sozialkasse mit dem weihegesetzlichen Vorratshaus in Zion und überträgt das biblische Modell auf eine moderne Kirchenökonomie.
In Vers 6 mündet die Regelung in eine verpflichtende Gemeindesolidarität: „Das Vorratshaus soll durch die Weihungen aus der Kirche erhalten bleiben; und Witwen und Waisen sollen versorgt werden, ebenso die Armen.“ Die spezifische Nennung von Witwen und Waisen spiegelt wörtlich Jak 1,27: „Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst … ist, Witwen und Waisen in ihrer Trübsal zu besuchen.“ Zugleich erweitert der Schlussausdruck „ebenso die Armen“ den Kreis auf alle Bedürftigen. Hier begegnet das Schlüsselprinzip des messianischen Reiches, wie es Jesaja verheißen hatte: „Dem Armen bringt er Gerechtigkeit“ (Jes 11,4).
Weil sich das Vorratshaus ausschließlich „durch die Weihungen aus der Kirche“ füllt, steht Vers 6 in unauflösbarer Wechselwirkung mit Vers 2: Wer Versorgung empfängt, ist zuvor selbst gerufen, nach Fähigkeit beizutragen. Somit etabliert die Offenbarung einen reziproken Kreislauf von Geben und Empfangen, der urchristliche Praxis widerspiegelt: „Es hatte auch keiner Mangel, denn jeder, der Äcker oder Häuser besaß, verkaufte sie … und man teilte sie jedem aus, so wie einer es nötig hatte“ (Apg 4,34–35).
Zusammenfassend betrachtet bildet L&B 83:1–6 eine miniaturisierte Sozial-Charta. Verse 1–4 definieren Zuständigkeiten innerhalb der Kleinfamilie, während Verse 5–6 die Verantwortung der größeren Bundesfamilie festlegen. Indem die Offenbarung beide Ebenen miteinander verschränkt, bewahrt sie einerseits das biblische Ideal der Selbst- und Familienverantwortung, andererseits verwirklicht sie das Liebesgebot Jesu in institutionalisierter Form. Die Stoßrichtung ist eindeutig: Gottes Reich soll dort greifbar werden, wo ökonomische Schwachstellen durch Glaubensbund ausgeglichen werden.
Historisch erwies sich das Konzept als tragfähig. Noch 2012 erinnerte Dieter F. Uchtdorf bei der Einweihung des weltweiten Bischofslagerhauses daran, dass seine eigene Familie im Nachkriegsdeutschland Nahrung, Kleidung und Bettzeug aus einem solchen Vorratshaus erhielt – eine direkte Frucht der hier begründeten Struktur. Der Grundton sämtlicher Verse bleibt dabei theologisch: Versorgung ist kein bloßes Fürsorgeprogramm, sondern ein sakramentaler Akt, denn wer dem Bedürftigen gibt, leiht „dem HERRN“ (Spr 19,17).
Die Bibel liefert damit nicht nur Parallelen, sondern auch Autorität für jede einzelne Klausel dieser Offenbarung. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Überzeugung, dass Wahre Religion sich an der Fürsorge für die Verwundbarsten beweist. L&B 83 übersetzt diese Überzeugung in verbindliches Kirchenrecht und hält die Heiligen bis heute dazu an, das Vorratshaus des Herrn mit Freuden zu füllen, damit „niemand unter euch arm sei“ (5 Mose 15,4).
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