So nehme ich nun das Thema der Taufe für die Toten wieder auf
- manfred.lobstein

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Tempelarbeit und Familienforschung
(Bild: Quelle)
“Wie ich in meinem Brief, den ich euch vor meinem Weggang schrieb, erwähnte, dass ich euch von Zeit zu Zeit schreiben und euch Mitteilung über viele Themen machen würde, so nehme ich nun das Thema der Taufe für die Toten wieder auf, denn dieses Thema scheint meine Gedanken zu beanspruchen und meine Gefühle am stärksten zu beeindrucken, seit ich von meinen Feinden verfolgt werde.” (Lehre und Bündnisse 128:1).
Lehre und Bündnisse 128 – Historie
L&B 128 gehört zu den markantesten Dokumenten der Nauvoo-Zeit, einer Periode in der Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die zwischen 1839 und 1846 liegt. In dieser Zeit entwickelte sich Nauvoo, Illinois, zu einem geistigen und organisatorischen Zentrum der jungen Kirche. Die Jahre waren geprägt von intensiver Offenbarung, aber auch von politischer Verfolgung, persönlichen Gefahren für Joseph Smith und den Herausforderungen, eine wachsende Gemeinschaft zu organisieren. Abschnitt 128 ist nicht in der Form einer traditionellen Offenbarung diktiert, wie viele andere Teile des Buches, sondern stellt einen persönlichen Brief Joseph Smiths an die Heiligen dar, datiert auf den 6. September 1842. Inhaltlich setzt er die Gedanken aus L&B 127 fort und entfaltet in besonderer Weise die Lehre von der Taufe für die Verstorbenen, die zu diesem Zeitpunkt zu einer der zentralen Glaubenspraxen in Nauvoo wurde.
Die historische Entstehungssituation dieses Abschnitts ist eng mit der Bedrohung Joseph Smiths durch erneute Auslieferungsversuche in den Bundesstaat Missouri verbunden. Nachdem im Jahr 1838 der sogenannte „Missouri-Mormon-Krieg“ zu schweren Verlusten geführt hatte und Joseph Smith mit anderen Führern inhaftiert gewesen war, blieb Missouri ein permanentes Risiko für seine Sicherheit. Im Sommer 1842 wurde er durch Anschuldigungen in Verbindung mit dem Attentat auf den ehemaligen Gouverneur von Missouri, Lilburn W. Boggs, belastet. Obwohl keinerlei Beweise seine Verwicklung bestätigten, nutzten die Feinde der Kirche diese Gelegenheit, um seine Auslieferung zu fordern. Joseph Smith musste sich deshalb zeitweise im Verborgenen aufhalten, teils in Häusern von Freunden, etwa bei Edward Hunter oder in Montrose, Iowa, gegenüber von Nauvoo. Gerade in dieser Phase, in der er von öffentlichem Auftreten weitgehend abgeschnitten war, schrieb er mehrere Briefe an die Kirche, die heute in den Abschnitten 127 und 128 überliefert sind.
Abschnitt 127, datiert auf den 1. September 1842, war Josephs erste ausführliche schriftliche Instruktion über die Taufe für die Verstorbenen, die seit 1840 praktiziert wurde. In diesem Brief legte er die Notwendigkeit schriftlicher Aufzeichnungen dar und betonte, dass jede Handlung ordnungsgemäß bezeugt und dokumentiert sein müsse. Abschnitt 128, nur wenige Tage später verfasst, vertieft diese Gedanken erheblich und führt sie systematisch weiter. Dass Joseph in Briefen schrieb und nicht in öffentlichen Predigten lehrte, hing unmittelbar mit seiner prekären Situation zusammen. Diese Briefe wurden in Nauvoo gesammelt, an die Mitglieder weitergegeben und später im „Times and Seasons“, der Kirchenzeitung, veröffentlicht. Auf diese Weise erhielten sie bald kanonische Autorität und fanden schließlich Eingang in das Buch Lehre und Bündnisse.
Die in Abschnitt 128 behandelte Thematik spiegelt eine theologische Entwicklung wider, die für die Nauvoo-Phase kennzeichnend ist. Während die frühe Kirtland-Zeit stark durch Visionen, die Wiederherstellung des Priestertums und die ersten Tempelerfahrungen geprägt war, rückte in Nauvoo die Heilsordnung für die Toten, die Tempelarbeit und das Verständnis ewiger Bündnisse in den Vordergrund. Joseph Smith lehrte, dass die Erlösung nicht nur die Lebenden betrifft, sondern dass durch die „Schlüssel der Siegelung“ auch den Toten die Möglichkeit eröffnet werde, durch stellvertretende Handlungen in den Genuss der Verordnungen zu kommen. Bereits in einer Predigt in Nauvoo im August 1840 hatte Joseph zum ersten Mal öffentlich die Lehre von der Taufe für die Verstorbenen eingeführt, angeregt durch den Tod von Seymour Brunson. Bald darauf begannen Mitglieder, Taufen für ihre verstorbenen Angehörigen im Mississippi durchzuführen. Doch rasch wurde klar, dass eine ordnungsgemäße Aufzeichnung und ein heiliger Rahmen notwendig waren, damit die Handlungen Gültigkeit vor Gott erlangen konnten. Daraus erwuchs die Notwendigkeit, die Prinzipien systematisch niederzulegen, wie sie in Abschnitt 128 entfaltet werden.
Ein wesentlicher Aspekt der Historie ist also, dass Abschnitt 128 nicht im luftleeren Raum entstand, sondern als Antwort auf die praktische Erfahrung der Heiligen, die dieses neue Gebot eifrig umsetzten. Anfangs wurden Taufen für die Verstorbenen in Flüssen oder Seen durchgeführt, ohne dass ein geordnetes Verfahren bestand, wie die Namen der Verstorbenen festgehalten und bestätigt werden sollten. Joseph Smith, der die göttliche Ordnung und die Verbindlichkeit solcher Handlungen betonte, stellte klar, dass Berichterstattung, Zeugenschaft und Niederschrift untrennbar mit der Wirksamkeit dieser Verordnungen verbunden seien. Nur so könnten die Handlungen sowohl auf Erden als auch im Himmel gültig sein, ein Gedanke, den er in Abschnitt 128 mit großer Eindringlichkeit formulierte. Hier tritt auch der Gedanke hervor, dass irdische und himmlische Bücher korrespondieren: Was die Heiligen auf Erden ordnungsgemäß aufzeichnen, wird auch im Himmel festgehalten.
Historisch betrachtet, ist der Brief ein bemerkenswertes Dokument, das theologische Lehre, biblische Bezüge und persönliche Begeisterung miteinander verbindet. Joseph Smith verwendete eine rhetorisch aufgeladene Sprache, die sowohl lehrend als auch hymnisch ist. Vor allem im letzten Teil des Abschnitts entfaltet er eine poetische Vision von der Freude der Lebenden und Verstorbenen, die gemeinsam an der Erlösung teilhaben. Viele Historiker haben darauf hingewiesen, dass dieser Brief in seiner stilistischen Kraft einer Predigt gleicht, obwohl er in schriftlicher Form vorliegt. Die Nauvoo-Gemeinde empfand ihn als geistige Erhebung in einer Zeit großer äußerer Unsicherheit.
Ein weiterer historischer Schlüssel liegt in der Verbindung zu den wiederhergestellten Priestertumsschlüsseln. Joseph Smith verweist in Abschnitt 128 auf die verschiedenen Engelserscheinungen und Offenbarungen, die die Kirche seit 1829 begleitet hatten: Moroni, Johannes der Täufer, Petrus, Jakobus und Johannes, Michael, Gabriel und andere. Diese Verweise verankern die Lehre der Taufe für die Verstorbenen in einem umfassenden heilsgeschichtlichen Kontext. Die Botschaft lautet: Die Kirche Jesu Christi ist nicht einfach eine neue Bewegung im 19. Jahrhundert, sondern sie ist die „Evangeliumszeit der Fülle der Zeiten“, in der alle früheren Schlüssel und Vollmachten wiederhergestellt sind. Der Brief nimmt damit eine zentrale Stellung im Selbstverständnis der Kirche ein: Er verbindet die konkrete Praxis der Tempelarbeit mit der großen Vision einer umfassenden Heilsordnung, die Himmel und Erde, Lebende und Verstorbene, Vergangenheit und Gegenwart verbindet.
Die Rezeption von Abschnitt 128 war in Nauvoo unmittelbar spürbar. Schon bald begann der Bau des Nauvoo-Tempels, dessen Taufbecken im Keller ganz bewusst als Sinnbild des Grabes errichtet wurde. Joseph Smith selbst wies darauf hin, dass das Becken unterhalb des Versammlungssaales der Lebenden liegen müsse, um das Symbol der Lebenden und Verstorbenen zu verdeutlichen. Diese bauliche Anordnung setzte die Lehren von Abschnitt 128 praktisch um und machte sie im Tempelbau sichtbar. Damit wurde der Tempelbau in Nauvoo nicht nur ein organisatorisches, sondern ein zutiefst theologisches Projekt, dessen Wurzeln in den Briefen Joseph Smiths liegen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass L&B 128 ein Dokument ist, das aus einer Zeit persönlicher Bedrohung hervorging, gleichzeitig aber eine der freudigsten und visionärsten Darstellungen der Nauvoo-Theologie bietet. Historisch spiegelt es die Situation eines Propheten wider, der im Verborgenen lebte und dennoch kraftvolle Anweisungen an seine Gemeinde gab. Es greift praktische Probleme der Kirchenorganisation auf, verbindet diese mit tiefen geistlichen Lehren und entfaltet eine Vision, die bis heute das Verständnis der Tempelarbeit prägt. Gerade weil es als Brief geschrieben wurde, vermittelt es eine persönliche Note: Joseph Smith spricht die Heiligen als „meine vielgeliebten Brüder und Schwestern“ an und lässt sie teilhaben an seiner eigenen Begeisterung für die Größe des Werkes. In einer Zeit äußerer Unsicherheit schenkte dieser Brief innere Gewissheit: dass Gottes Werk unaufhaltsam voranschreitet, dass die Lebenden und Verstorbenen miteinander verbunden sind und dass die wiederhergestellten Schlüssel eine ewige Gültigkeit besitzen.



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